Bluthügel -Leseprobe-


Eins 

 

Zu lange hatte sie auf einen solchen Tag warten müssen. Dieses Los teilte sie mit allen anderen. Aber sie drohte es zu zermürben, jeden weiteren Tag, an dem der Winter kein Ende nehmen wollte. Dafür zeigte sich der erste schöne Tag des Jahres von seiner prachtvollsten Seite. Die letzten Tage waren schon zaghafte Vorboten gewesen und hatten das angedeutet, was heute seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte. Heute schien die Sonne von einem wolkenlosen Himmel und vermochte die Luft angenehm zu erwärmen. Ina Gebauer stand auf der Straße am Fuße des Hüggels und atmete tief ein. Wie gut der Frühling roch! 
Dieses Jahr war der Winter lang gewesen. Erst jetzt, Ende April, schien er sich endlich geschlagen zu geben und das Feld dem Frühling überlassen zu wollen. Eine nahezu durchgängige Schneedecke von Anfang Februar bis Mitte März sorgte für ungewöhnliche Winterbilder. Gut, sie kannte die Aussagen älterer Leute, die ob solchen Wetters nur beseelt lächelten. Früher gab es noch richtige Winter, sagten sie dann. Aber Ina konnte sich nicht erinnern, wann es zuletzt derart viel Schnee gegeben hatte. Und kalt war es gewesen. Bitter kalt. Auch Ende März hatte die Säule im Thermometer meist um die fünf Grad gependelt.  Anschließend war es richtig widerlich gewesen. Tristes Grau am Morgen, am Mittag und den ganzen Tag über. Beste Bedingungen für eine Depression. Deshalb hatte Ina die Gelegenheit genutzt und war am Mittag aufgebrochen. Nur ein bisschen raus. Mit diesen Worten verabschiedete sie sich von ihrem Mann Mats.

Schnell eine Runde an die Luft, bevor es am Nachmittag wieder eines dieser familiären Kaffeetrinken gab, die sie schon mit Grauen erfüllten, sobald sie nur daran dachte. Sie liebte ihre Familie über alles, aber es gab nicht viele Dinge, die sie mehr hasste. Gezwungene Konversationen über belanglose Themen und desinteressierte Gesprächsteilnehmer, wie es bei diesen Runden an der Tagesordnung war, behagten ihr einfach nicht. Oberflächlichkeiten waren ihr zuwider, ganz gleich ob sie am Arbeitsplatz oder in der Familie stattfanden.

Außerdem hielt sie es nicht lange in geschlossenen Räumen aus. Sie musste raus, wann immer es ging. Ina war ganz vernarrt in die Natur. Dieses Zusammenspiel aus frischer Luft, dem Duft der Umgebung, den Stimmen der Vögel, dem Rauschen der Blätter, dem Plätschern eines Baches. All das gab ihr so unglaublich viel.

 

Im letzten Sommer waren sie nach Hagen a.T.W. gezogen, nachdem ihre Suche nach einem passenden Bauplatz von Erfolg gekrönt gewesen war. Das Grundstück überstieg zwar preislich ihr Budget, war dafür aber ein Traum. Vor allem der Ausblick war ein Geschenk. Vom Garten aus genossen sie eine unverbaute Sicht auf die sanften Höhenzüge des Teutoburger Waldes, in dem sich eine Vielzahl von Wanderwegen befand, die zu erlaufen Ina sich fest vorgenommen hatte. Ihr Haus lag am Rande einer Neubausiedlung am Stadtrand von Hagen, diesem kleinen, übersichtlichen Ort, an dem alles ein wenig langsamer zu gehen schien als in der lärmenden Großstadt Osnabrück, wo sie bis dahin gelebt hatten. Schnell war sie hier heimisch geworden und ebenso schnell war es ihr gelungen, Anschluss an die Nachbarn zu finden, mit denen sie sich gut verstand. Diese Art der Bedächtigkeit, der Umgang der Menschen untereinander, tat ihr gut.

Sie verließ die Siedlung auf der schmalen Straße, die in den Wald führte. Nach wenigen hundert Metern erreichte sie den Wirtschaftsweg, den sie schon unzählige Male gegangen war. Sie wanderte gerne. Mal in Begleitung ihrer Freundinnen, oft aber alleine. Sie genoss es geradezu, auf ihren Spaziergängen innezuhalten, wenn ihr danach war, und dann auf niemanden Rücksicht nehmen zu müssen. Auch das war ein Grund, weshalb sie sich aus der Walkingrunde ihrer Freundinnen ausgeklinkt hatte. Pausenloses Gebrabbel in schöner Landschaft passte einfach nicht zusammen. 

An der Weggabelung blieb sie stehen. Ihr war danach, dieses Mal den rechten Weg einzuschlagen, der in neues, für sie unbekanntes Terrain führte. Den linken war sie schon gegangen. Er führte über den Silberberg in einer Art Halbkreis vorbei an Feldern und den Gleisen der stillgelegten Bahnstrecke zurück zur Stadt. Der rechte führte geradewegs in den Hüggel, jenen Höhenzug, den sie von ihrem Haus aus sehen konnte, den sie aber, aus ihr unerklärlichen Gründen, bis heute noch nicht erkundet hatte.  

Sie ging ein Stück auf dem Weg, als sie an einem Baum eine Markierung entdeckte. Auf schwarzem Untergrund war eine Zahl aufgemalt, die einen Wanderweg kennzeichnete. Umso besser. Für den unwahrscheinlichen Fall der Fälle, dass sie sich verlaufen würde, konnte sie sich wunderbar an den Markierungen orientieren. Zudem fanden sich an solchen Wegen auch immer wieder Tafeln, auf denen Karten die Umgebung und damit den Heimweg aufzeigten. Aber ihr war nicht bang. Sie besaß einen guten Orientierungssinn, der sie bisher noch nie getäuscht hatte.

Schwungvoll setzte sie einen Schritt vor den anderen. Sie fühlte sich großartig. Da machte es auch nichts, dass der Weg nun schon einige Zeit anstieg. Immer wieder blieb sie kurz stehen, um die Eindrücke aufzunehmen, die ihr dieser Frühlingstag schenkte. Das Singen der Vögel, die es auch nicht erwarten konnten, endlich den Winter hinter sich zu lassen. Die Rehe, die in einiger Entfernung in aller Ruhe grasten und sich nichts aus ihr machten. Nur einmal hoben sie kurz den Kopf, um dann wieder ihrer Tätigkeit nachzugehen.  

Je weiter sie kam, desto mehr wunderte sie sich über den schlechten Zustand des Weges. Für einen Wanderweg eigentlich ein Unding. Immer ausladender wurden die Sträucher und Zweige, die von beiden Seiten in den Weg hineinragten und ihn immer mehr einengten, bis er schließlich fast nur noch ein Trampelpfad war. Zunehmend schwerer fiel es ihr, sich ihren Weg zu suchen. Ab und an fand sie die bekannte Markierung, die ihr beschied, auf dem richtigen Weg zu sein. Es konnte ja auch gar nicht anders sein, schließlich ging es nur geradeaus.  Sie hielt an und blickte sich um. Wohin sie auch sah, überall war nur Wald. Hier war er so dicht, dass sie die dahinterliegende Landschaft nur schemenhaft erahnen konnte. Sollte sie noch weitergehen? Wie spät war es überhaupt? Jedes Zeitgefühl war ihr abhandengekommen.

Ihr Griff ging in die Hosentasche. Und ins Leere. Natürlich! Sie hatte ihr Smartphone bewusst zuhause gelassen. Mist. Sie fluchte leise vor sich hin. Keine Uhr und kein Telefon. Na prima. Erneut sah sie sich um. Einfach zurückzugehen wäre die einfachste Lösung. Aber der ganze Weg für nichts? Das kam für sie nicht in Frage. Zu groß war der Wunsch nach der grandiosen Aussicht, die sie dort oben erwartete. War da vorn nicht das Ende der Steigung? Zumindest ging es nicht weiter bergauf. Bis dahin wollte sie noch gehen, dann würde sie weitersehen. Also kämpfte sie sich weiter durch dichtes Gestrüpp und musste achtgeben, sich nicht an einer Wurzel den Fuß zu stauchen - oder schlimmeres. Das hätte ihr noch gefehlt. Ein letzter steiler Anstieg, eine letzte Kehre. Endlich war sie oben und hielt abrupt in ihrer Bewegung inne.

 

Wie vom Blitz getroffen stand sie da und schaute ungläubig. Augenblicklich bekam Ina es mit der Angst zu tun. Was sie dort sah, mitten im Wald auf der Anhöhe, nahm ihr den Atem. Sie traute ihren Augen nicht. 
Auf einer Entfernung von nur wenigen Armlängen stand etwas vor ihr, das sie auf den ersten Blick überhaupt nicht erkennen konnte. War es ein Mann? Eine Frau?

Ein grauer, bis zum Boden reichender Wollmantel ließ keinen Aufschluss darüber zu. Auf jeden Fall war die Figur groß und besaß einen breiten Oberkörper. Anstatt des Gesichtes sah sie nur eine schwarze Maske, die zwei Löcher für die Augen hatte, die sie jetzt durchdringend anstarrten. 
Umgehend setzte ihr Fluchtinstinkt ein.

Ina wandte sich um und wollte gerade nach unten stürzen, als sie von hinten getroffen wurde. Ein heftiger Stoß erwischte ihre Schulter. Ina schrie laut auf und ging zu Boden. Sofort rappelte sie sich auf und drehte sich um. Schmerzgeplagt unternahm sie einen nächsten Versuch, von dort wegzukommen, doch wieder kam sie nicht weit. Erneut bekam sie einen Schlag, dieses Mal auf den Hinterkopf. Ina stürzte lang hin und konnte sich gerade noch mit den Händen abfangen. Das Grauen packte sie. Das letzte, was sie sah, waren zwei behandschuhte Hände, die nach ihr griffen.
 
Zwei 

 

Wiederholt schaute Mats auf die Uhr, wie schon gefühlte dreißig Mal in den letzten fünf Minuten. Wo blieb sie nur? Er stand auf und ging in die Küche. Von hier konnte er den Weg sehen, der aus der Siedlung hinaus und in Richtung Wald führte. Den Weg, den seine Frau meistens nahm, wenn sie ihre Runde drehte. Nur wenige Male waren sie gemeinsam dort spazieren gegangen. Er stand nicht auf planloses Herumstreifen, was es in seinen Augen war. Er selbst war zu sehr Stadtmensch und wäre gerne in der Stadt geblieben, auch wenn der günstigere Preis für das Grundstück hier draußen letzten Endes ein unschlagbares Argument gewesen war.

Wieder der Blick zur Uhr. Um vier sollten sie bei ihren Eltern sein; jetzt war es gleich halb vier. Zwar war Ina keine Frau, die sich vor jeder noch so banalen Verabredung stundenlang im Bad einschloss, um sich herzurichten, aber duschen würde sie sich doch bestimmt noch wollen. Und da sie für den Weg eine gute halbe Stunde brauchten, wurde es langsam eng. Er griff sich erneut das Telefon und wählte ihre Nummer. Wieder hörte er nur das monoton klingende Freizeichen. Er drückte den roten Hörer und stand mit dem Telefon in der Hand am Fenster. Sollte er ihr entgegengehen? Immerhin stand die Chance sie zu finden bei fünfzig Prozent. Wenn sie den Weg genommen hatte, den sie für gewöhnlich nahm, noch höher. Und wenn er in die falsche Richtung lief?

Er entschied sich dagegen. Zu Hause zu warten erschien ihm vernünftiger als jetzt ziellos in der Gegend herumzulaufen. Nochmal nahm er den Hörer und wählte. Dieses Mal jedoch nicht die Nummer seiner Frau, sondern die seiner Schwiegereltern. Zeit, sie über die Verspätung zu informieren.

»Ja, moin, ich bin es. Ich wollte nur sagen, wir kommen etwas später. Was? Ja. Nein, weiß ich nicht. Ina ist grad noch was erledigen. Schätze mal, spätestens halb fünf sind wir da. Tut mir leid. Bis gleich!«

 

Mats pflegte ein gutes Verhältnis zu Inas Eltern, weshalb ihm diese Notlüge leidtat. Aber was hätte er ihnen sonst sagen sollen? Ihre Tochter war spazieren und ward seit ihrem Fortgang nicht mehr gesehen? Und dass er nicht einmal den Hauch einer Ahnung besaß, wo sie überhaupt hingegangen war? 
Er ging von der Küche aus ins Wohnzimmer und betätigte im Gehen die Wahlwiederholung. Auf halbem Weg hielt er inne. Er nahm das Telefon vom Ohr, um besser hören zu können. Er lauschte in die Stille des Hauses. Klingelte da nicht eine bekannte Melodie? Die von Inas Telefon? Er horchte angestrengt und bewegte sich in die Richtung, aus der die Musik kam. Kein Zweifel, es war ihr Telefon. Das Klingeln wurde lauter und schließlich fand er das Gerät auf dem Schränkchen an der Garderobe. »Scheiße«, sagte er leise zu sich. »Verfluchter Mist. Auch das noch.« Mats konnte es nicht fassen. Wie blöd war das denn? Seine Frau war nicht nur verschwunden, sondern auch nicht zu erreichen. Und, auch das ging ihm durch den Kopf, ohne Möglichkeit, Hilfe zu holen, falls ihr etwas passiert sein sollte. Längst war dieser Fall für ihn eine mögliche Erklärung, warum sie überfällig war. Ina war zwar manchmal fahrig und bedächtig, beides Wesenszüge, die er an ihr liebte, aber nie vergaß sie über ihre Unternehmungen die Zeit. Zu allem Unglück trug sie auch nur sehr selten eine Armbanduhr. Er wäre überrascht, wenn es gerade heute der Fall wäre.  

 

»Scheiße, verdammt«, fluchte er wieder. Mats lief im Haus auf und ab, durchschritt alle Räume auf der Suche nach einer Idee. Was nur tun? Na klar! Warum war er nicht gleich drauf gekommen? Er konnte Nicole fragen, ihre Arbeitskollegin, die nur zwei Straßen weiter wohnte. Ina hatte einmal erzählt, mit ihr zusammen unterwegs gewesen zu sein. Vielleicht wusste sie, wo Ina sich aufhielt. Er suchte im Adressbuch ihre Nummer. Ungeduldig wartete er auf das Freizeichen. Nach einer Weile hob ein Mann ab. Mats kannte schon Nicole nur flüchtig, ihren Mann überhaupt nicht. In knappen Sätzen erzählte er, was los war, wobei er es tunlichst vermied, auch nur entfernt anzudeuten, seiner Frau könnte etwas passiert sein. Aber auch das hätte er sich sparen können, denn Nicole war nicht zu Hause. Sie war im Krankenhaus bei ihrer Mutter und nur sehr eingeschränkt erreichbar.  Er bedankte sich, beendete das Gespräch und ließ sich auf den erstbesten Stuhl fallen. Plötzlich wurde ihm anders. Aus dem Ärger über das verspätete Heimkommen war Sorge geworden. Nur eine vage Ahnung, aber die breitete sich unaufhaltsam in ihm aus. Allein der Umstand, dass dies keine Eigenart seiner Frau war, sorgte für Sorgenfalten auf seiner Stirn. Er musste etwas tun. Angestrengt dachte er über die sich ihm bietenden Möglichkeiten nach.